Die Familie Gagliano und der Geigenbau in Neapel

Die Geigenbauerfamilie Gagliano nimmt eine besondere Stellung in der Geschichte ihres Handwerks ein: Dank der hochstehenden Kunst und der innovativen Kraft der Meister aus ihren Reihen, dank der ungewöhnlich langen Kontinuität ihrer Familientradition – und dank vieler exzellenter Klanginstrumente, die den Begriff der italienischen Geige mit definiert haben und in den Händen erstklassiger Solisten auch die Musikwelt unserer Tage bereichern.

Übersicht:

Alessandro Gagliano – Stammvater der Familie und Gründer des Geigenbaus in Neapel

Alessandro Gagliano ist der Stammvater der Geigenbauerdynastie Gagliano und gilt als der Begründer des Geigenbaus in seiner Heimatstadt Neapel. Wie bei vielen großen Persönlichkeiten der Geigenbaugeschichte ranken sich um ihn und die Ursprünge seiner Kunst zahlreiche Legenden. So überliefert der russische Fürst, Diplomat und Kunstsammler Nikolai Borissowitsch Jussupow – der übrigens zum erlesenen Besitzerkreis der berühmten „Ex-Lipiński“-Violine von Guarneri del Gesù gehört – die unterhaltsame Geschichte über ein gewonnenes Duell, nach dem sich der junge Alessandro in den Wäldern Norditaliens verstecken musste und sich dort die Zeit mit ersten Versuchen im Instrumentenbau vertrieb – um schließlich zu keinem geringeren als Antonio Stradivari in Cremona in die Lehre zu gehen. Während diese Fluchtgeschichte nie besonders ernst genommen wurde, hielt sich in der Literatur doch recht lange die Annahme einer Ausbildung bei Antonio Stradivari – gestützt von Alessandro Gaglianos Zetteln, auf denen er sich stolz als „Alumnus Stradivarius“ bezeichnet. Angesichts der Eigenständigkeit seines Geigenmodells und seiner Arbeitsweise wird diese Ansicht aber heute nicht mehr vertreten.

Wie viele andere Details über die Biographien der Gaglianos, deren Lebensdaten bis vor vergleichsweise kurzer Zeit weitgehend unerforscht waren, bleibt so auch einstweilen offen, bei wem Alessandro Gagliano sein Handwerk erlernt hat. Möglicherweise waren es Füssener Meister wie Jacob Diefenbrunner oder Christoph Railich, die als Lautenmacher in Neapel tätig waren und insofern als Vorgänger und Lehrer von Alessandro Gagliano in Frage kämen – Belege für solche Vermutungen sind jedoch nicht bekannt.

Nicolò Gagliano (Nicolo I) und das Erbe Stradivaris

Nicolò Gagliano (Nicolaus Gagliano) gilt als der bedeutendste Geigenbauer seiner Familie, wenn ihm auch sein Bruder Gennaro und sein Sohn Giuseppe als Meister von historischem, stilprägendem Rang kaum nachstehen. Im Unterschied zu seinem Vater und Lehrer Alessandro, dessen Geigenmodell keine nennenswerte Beeinflussung durch die Geigenbau-Tradition von Cremona erkennen lässt, präsentiert sich das Lebenswerk von Nicolò Gagliano als eine von tiefem Verständnis und kongenialer Innovation geprägte Auseinandersetzung mit dem Vorbild Antonio Stradivari. Seine Arbeit erreicht dabei Standards, wegen der einige seiner Violinen lange für authentische Arbeiten Stradivaris gehalten wurden. Dass seine spezifische Leistung dadurch vergleichsweise spät in den Blick der Forschung kam, schmälerte allerdings nicht den ausgezeichneten Ruf, den seine Geigen und nicht zuletzt seine wenigen erhaltenen Celli in der Musikwelt bis heute genießen.

Gagliano family tree

Gennaro Gagliano – der Bruder

Gennaro Gagliano (Januarius Gagliano) wird unter Experten zuweilen höher geschätzt als sein älterer Bruder Nicolò, doch ist die Rangfolge dieser historischen Geigenbauerpersönlichkeiten angesichts der Qualität ihrer Œuvres eine Frage von untergeordneter Bedeutung. Beiden Brüdern ist die Orientierung am Vorbild der großen Cremoneser Meister gemein, wobei sich Gennaros Kreativität weniger in einer Weiterentwicklung des wirkmächtigen Stradivari-Modells äußerte als in einem persönlicheren Stil – zu dessen unverkennbaren Elementen insbesondere das Farbspiel seines Lackes gehört. Darüber hinaus scheint Gennaro – soweit die überlieferten Instrumente einen solchen Schluss zulassen – mehr als Nicolò am Geigenmodell Amatis interessiert gewesen zu sein.

Beide Brüder widmeten sich schließlich mit großem Erfolg dem Bau erstklassiger Violoncelli und haben in diesem Genre nicht nur Instrumente gebaut, die bis heute zu den Spitzenleistungen ihrer Art gehören, sondern auch ein schmaler gehaltenes Modell definiert, das für den neapolitanischen Geigenbau charakteristisch werden sollte.

Ferdinando, Antonio und Giuseppe Gagliano – die dritte Generation

Im Werk der drei Söhne Nicolò Gaglianos etabliert sich die familiäre Handwerkstradition der Gaglianos und reift zur neapolitanischen Schule, die den Rang Neapels als zweites historisches Zentrum des italienischen Geigenbaus gleich nach Cremona begründet. Ferdinando, Antonio und Giuseppe Gagliano wurden in einer Geigenbauwerkstatt ausgebildet, die zu den weltweit führenden gehörte. Auch ohne detaillierte Informationen über die Zusammenarbeit der beiden Generationen zu haben, scheint Ferdinando doch nicht bei seinem Vater, sondern bei seinem Onkel Gennaro in die Lehre gegangen zu sein, dessen Stil und Arbeitsweise in Ferdinandos Instrumenten klar zu erkennen sind – im Unterschied zu Giuseppe, der seine Kunst von seinem Vater Nicolò erlernte.

Doch bei aller Kontinuität setzte auch diese Generation ihre eigenen Akzente und brachte sie dauerhaft in die neapolitanische Tradition ein, so etwa die typisch geschwungene Form des Wirbelkastens mit einer zierlichen Volute, die auf Giuseppe Gagliano zurückgeht und in Neapel bis ins 20. Jahrhundert hinein zitiert wurde.

Giovanni Gagliano (Giovanni I) „der Neffe“ und die 4. Generation der Geigenbauerfamilie Gagliano

Obwohl Giovanni Gagliano als Sohn Nicolòs zur dritten dritten Generation seiner Familie gehörte, wird er in der Literatur doch oft zur vierten gezählt; zum einen, da alle ihre Vertreter seine Söhne sind, zum anderen aber auch, da die Beziehungen zwischen seinem und ihrem Werk wesentlich enger sind als zu dem seiner Brüder.

Kennzeichnend für die 4. Generation der Geigenbauerfamilie Gagliano ist eine gewisse Tendenz zu einfacheren, effektiveren und damit auch wirtschaftlicheren Verfahren. Zugeständnisse an die Qualität der verwendeten Hölzer, Böden ohne Einlage, weniger Liebe zum Detail in der Randarbeit oder an Wirbelkasten und Schnecke sind wohl keinem Mangel an Talent oder Ausbildung geschuldet, sondern eher als pragmatische Zugeständnisse an die Zeit des aufkommenden Manufakturwesens im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert zu werten und entsprechen den Bedingungen des sich weiter entwickelnden Marktes.

Dennoch leuchtet in einzelnen Arbeiten immer noch der typische Stil der Familie auf, und viele selbst dieser einfacheren, oft als charakterschwach und oberflächlich bezeichneten Instrumente überraschen mit ihrem sehr guten, italienischen Klang. Sie zeigen auf ihre Weise, dass Giovanni das Erbe einer exzellenten Ausbildung bei seinem Onkel Gennaro – wegen der er sich auch auf seinen Zetteln „der Neffe Gennaros – Nepos Januarius“ nannte – durchaus an seine Nachkommen weitergegeben hatte.

Mit Vincenzo Gagliano, einem Sohn Raffaeles und Ur-Ur-Enkel Alessandro Gaglianos, der sich der Herstellung von Saiten zuwandte, verließ die Familie schließlich nach fast 200 Jahren den Geigenbau.

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