Jérôme Thibouville-Lamy – J.T.L.

Zur Geschichte von Jerome Thibouville-Lamy (J.T.L.) –
Teil 2 unserer Reihe zum der industriellen Streichinstrumentenbau in Frankreich

Wie viele große Instrumentenbau-Unternehmen des 19. Jahrhunderts in Mirecourt entstand auch J.T.L. (Jérôme Thibouville-Lamy) aus der Vereinigung mehrerer erfolgreicher Vorläufer und hat Wurzeln, die quer durch Frankreich bis in die Normandie reichen.

Übersicht:

 

In der kleinen, traditionellen Instrumentenbaustadt La Couture-Boussey war die Familie Thibouville bereits seit dem 16. Jahrhundert mit der Herstellung von Blasinstrumenten beschäftigt und gut etabliert. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts suchte Louis Emile Jérôme Thibouville nach einer Möglichkeit, an dem dynamischen Markt für Streichinstrumente teilhaben zu können – und fand das Mirecourter Unternehmen Husson-Buthod als vielversprechenden Partner, der eine respektable Größe mit gereifter Kompetenz verband. Die hohen Qualitätsmaßstäbe, die Charles Buthod und Charles-Claude Husson in ihren – für sich schon erfolgreichen – Häusern anlegten und in ihrer Fusion im Jahre 1848 zusammenführten, kamen nicht von ungefähr. Sie wurzeln in der Pariser Werkstatt von Jean-Baptiste Vuillaume, in der Buthod und Husson wie viele andere große Geigen- und Bogenbauer ihrer Generation beschäftigt gewesen waren. So boten sie Thibouville optimale fachliche Voraussetzungen für seinen geplanten Einstieg in den Bau von Streichinstrumenten, als sie 1857 das Gemeinschaftsunternehmen „Husson-Buthod-Thibouville“ in Mirecourt gründeten. Umgekehrt versprachen sich die beiden Mirecourter ausgezeichnete Chancen, nunmehr auch über Frankreich hinaus tätig werden und ihre Violinen in alle Welt verkaufen zu können.

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Ein Bund für das Leben: Die Gründung von Jérôme Thibouville-Lamy (JTL) per Eheschließung

Vier Jahre später besiegelte die Hochzeit von Louis Emile Jérôme Thibouville und Marguerite Hyacinthe Lamy diese neue Verbindung, mit der J.T.L. zu einer der mächtigsten in der Welt des Geigenbaus werden sollte, in geradezu aristokratischer Manier: denn Marguerite war nicht nur eine Cousine der beiden neuen Geschäftspartner Thibouvilles, sondern auch mit dem Pariser Händler Claude Charles Duchene verwandt. Mit dieser Heirat wurde „Husson-Buthod-Thibouville“ zu der berühmten Marke „Jérôme Thibouville-Lamy (JTL)“. Unter diesem Namen sollte das Unternehmen rasch wachsen, um zu besten Zeiten eine Jahresproduktion von mehr als 150.000 Instrumenten zu erreichen, hergestellt von über 1.000 Geigenbauern.

Ein Fenster in die Vergangenheit: Die frühen Kataloge von J. T. L.

Dieser Aufstieg von Jérôme Thibouville-Lamy ist in beeindruckender Weise in den Katalogen des späten 19. Jahrhunderts und der Jahrhundertwende zu studieren, die die Ausweitung und zunehmende Differenzierung des Angebots von J.T.L. dokumentieren. Sie sind nicht allein wegen der in ihnen enthaltenen eindrucksvollen Stiche und Fotografien interessant, die die Arbeitsweisen in den Werkstätten illustrieren sowie die Produktionsstätten und das imposante Pariser Stammhaus darstellen. Ablesbar ist an ihnen vor allem die kluge Strategie, den unterschiedlichen musikalischen Bedürfnissen und ästhetischen Erwartungen von Streichmusikern dieser Zeit mit einer fein strukturierten Produktpalette zu entsprechen. Hier ist an erster Stelle an die Ausbildungs-Instrumente unterschiedlicher Qualitätsklassen zu denken, die für den Erfolg von Jerome Thibouville-Lamy - J.T.L. keine geringe Rolle spielten – besonders bekannt und bis heute geschätzt sind etwa die Reihen Médio-Fino („Mi-Fin“) und Compagnon. Eine zweite Gruppe umfasst Nachbauten der Werke Jakob Stainers, von Matthias Klotz und natürlich der klassischen italienischen Meister wie Antonio Stradivari, die nach ihren historischen Vorbildern benannt waren und oft mit ihnen nachempfundenen Modell-Etiketten versehen wurden. Besonders interessant sind schließlich die Geigen, die nach alten Geigenbau-Familien aus Mirecourt und ganz Frankreich benannt wurden; längst nicht alle dieser Werkstätten waren tatsächlich in Jerome Thibouville-Lamy aufgegangen, sondern wurden wegen der Aura ihres guten Namens als Marke geführt.

Jérôme Thibouville-Lamy (JTL) – ein Inkubator geigenbauerischer Exzellenz

Natürlich hat diese Praxis zu mancherlei Verwirrung über die Provenienz vieler Geigen geführt, ein für den Absatz der Instrumente sicher nicht unerwünschter Effekt, der aber in manchen Aspekten auch durchaus zutreffend ist. Denn tatsächlich waren die Werkstätten von J.T.L. nicht bloße Produktionsstätten von Massenartikeln, als die Jérôme Thibouville-Lamy – wie viele ähnliche europäische Großunternehmen dieser Epoche – oft verkannt wird. Vielmehr konzentrierte sich hier auch ein über Generationen akkumuliertes technisches Wissen, das von ausgezeichneten Geigenbauern in das Unternehmen gebracht wurde – und zugleich von dort ausstrahlte, durch Meister, die wesentliche Teile ihrer Ausbildung bei J.T.L. absolvierten. Ein interessantes Beispiel ist etwa der Züricher Geigenbauer Karl Siebenhüner, Sohn des Lemböck-Schülers Anton Siebenhüner, der lange Jahre Mitarbeiter von George Gemunder in New York war. Selbst dieser Sohn eines international erfahrenen, vielfach ausgezeichneten Meisters wurde von seinem Vater nach Mirecourt geschickt, um sich bei J.T.L. für die Übernahme der familiären Werkstatt vorbereiten zu lassen. Auch Paul Kaul, der im frühen 20. Jahrhundert Mitarbeiter von Silvestre & Maucotel war und später mit eigenen Werkstätten in Nantes und Paris bekannt wurde, erlernte sein Handwerk bei J.T.L. – eine Reihe, die sich mit Namen wie Marius Didier oder Charles Fétique fast beliebig weit fortsetzen lässt. Diese Meister belegen mit ihren Werkstätten, dass selbst im exponentiell wachsenden Musikinstrumentenbau einer Stadt wie Mirecourt stets auch handwerkliche, traditionell arbeitende Betriebe existierten – und noch mehr: sie zeigen, dass zwischen diesen beiden so unvereinbar scheinenden Ansätzen ein Austausch bestand, der der Forschung reichlich unbearbeiteten Stoff bietet.

 

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