Die Chaconne von Johann Sebastian Bach (BWV 1004)

Die Chaconne aus Johann Sebastian Bachs Partita Nr. 2 in d-Moll gilt als eine der eindrucksvollsten Kompositionen der Violinliteratur. Viele Interpreten und Forscher sehen in ihr mehr als nur ein technisches Meisterwerk und deuten das Stück als musikalischen Ausdruck persönlicher Trauer. Entstanden möglicherweise im Gedenken an Bachs verstorbene erste Frau, vereint die Chaconne emotionale Tiefe mit kompositorischer Strenge. Ihre Wirkung beruht auf einer stillen Intensität, die bis heute berührt – und ihre Entschlüsselung stellt Musiker und Musikwissenschaft gleichermaßen vor große Fragen.

Bach Chaconne: Übersicht

Johann Sebastian Bach's Chaconne – Struktur, Zahlensymbolik und Intertextualität

Zur Struktur von Bach's Chaconne

Bachs Chaconne ist ein monumentales Werk mit 256 Takten – mehr als die vier vorhergehenden Sätze der Partita Nr. 2 in d-Moll (BWV 1004) zusammen, die ihren unmittelbaren Werkzusammenhang bilden. Sie basiert auf der Form des Ostinatos, bei dem ein wiederkehrender Bass das Fundament bildet. Johann Sebastian Bach greift dabei auf die italienische Tradition zurück, in der das Thema oft figuriert und schwer erkennbar erscheint. In der Chaconne wechselt das Bassmotiv zwischen einem Lamentobass (d-c-b-a) und einem passus duriusculus.

Zahlensymbolik und intertextuelle Bezüge in Johann Sebastian Bach's Chaconne

Die Vielschichtigkeit der Chaconne spiegelt sich in einer Fülle wissenschaftlicher Analysen wider, unter denen oft schon die zu interpretierenden Strukturen umstritten sind. So gehen verschiedene Analysen von einem Aufbau in 64 viertaktigen Variationen aus, während andere die Chaconne in 34 Variationen teilen, in denen 8 mal die ersten vier Takte und weitere 26 mal alle acht Takte vorkommen. Die dreiteilige Gliederung in einen ersten Moll-Teil mit 33 Variationen, einen Dur-Mittelteil mit 19 und einen abschließenden Moll-Teil mit 12 Variationen führt durch die Kürzung der Variationen pro Abschnitt zu einer dramaturgischen Steigerung: Die Musik wird intensiver, dichter, die Kadenzen setzen früher ein. Zudem kontrastieren diatonische und chromatische Passagen, Moll- und Dur-Tonalitäten, Akkordbrechungen und Skalenläufe. Die Polyphonie, oft nur angedeutet, wird durch geschickte Stimmführung suggeriert, wie sie in ähnlicher Form auch in Bachs berühmten Cellosuiten vorliegt (s. u., Kap. 2).

Aufbauend auf diesen Strukturbeobachtungen erschließt die Musikwissenschaft die klangliche Architektur von Bachs Chaconne nicht nur musikalisch, sondern auch zahlensymbolisch; viele Autoren interpretieren die Gliederung in drei Abschnitte (Moll-Dur-Moll) als ein spirituelles oder biografisches Narrativ. Heinrich Poos etwa sieht in der Zahl 4 eine Allegorie auf die vier Elemente bzw. die vier Jahreszeiten (musica mundana), die vier Lebensalter (musica humana) und die vier Saiten der Violine (musica instrumentalis). Andere Forscher analysieren symmetrische Strukturen und vermuten hinter der Zahl 30 – die Anzahl von Variationen vor und nach dem Dur-Teil – ein bewusstes kompositorisches Kalkül, das sich auch in anderen Werken wie den Goldberg-Variationen wiederfindet.

Besonders weit geht Helga Thoene in ihrer Analyse. In ihrem Buch „Ciaccona – Tanz oder Tombeau?“ argumentiert sie, dass Johann Sebastian Bach mit der Chaconne ein Grabmal für seine verstorbene Frau komponiert habe. Sie identifiziert versteckte Choräle, basierend auf der Umwandlung von Noten in Zahlen (Gematrie), und entdeckt Bezüge auf das Kirchenjahr in der Komposition. Ähnlich argumentiert Judith Bernhardt, die unter Anwendung eines Zahlenalphabets Namen der Bach-Familie im Notentext identifiziert. Kritiker wie Martin Geck halten solche Thesen für spekulativ, betonen jedoch, dass Zahlensymbolik im Barock eine bedeutende Rolle spielte. Geck warnt auch davor, auf gedruckte Ausgaben zurückzugreifen, da nur Autographen den Kompositionsprozess authentisch abbilden.

Kontext der Chaconne in Leben und Werk J. S. Bachs

Die Chaconne ist der abschließende Satz der Partita Nr. 2 in d-Moll (BWV 1004), einem der sechs Werke aus dem Zyklus „Sei Solo. a Violino senza Basso accompagnato“ (BWV 1001–1006). Dieser Zyklus entstand laut Reinschrift 1720 in Köthen, wobei die Anfänge möglicherweise in die Weimarer Zeit (1708–1717) zurückreichen. In Köthen fand Bach ideale Bedingungen: Der Fürst Leopold von Anhalt-Köthen war höchst musikbegeistert, die Hofkapelle exzellent besetzt und Instrumentalmusik wurde besonders gefördert.

Bach's Chaconne als polyphones Solo-Werk

Die „Sei Solo“ und die Cello-Suiten (BWV 1007–1012) demonstrieren Johann Sebastain Bachs tiefe Vertrautheit mit der Spieltechnik der jeweiligen Instrumente. Trotz des Verzichts auf Generalbass gelingt es ihm, eine dichte Polyphonie und komplexe Harmonik zu erzeugen. Akkordische Solomelodik, reine Einstimmigkeit und andeutungsreiche Polyphonie verbinden sich in einzigartiger Weise. Die Chaconne nimmt dabei eine Sonderstellung ein – sowohl in Bezug auf Virtuosität als auch Ausdruck. Ihre formale Strenge und emotionale Tiefe machen sie zu einem Schlüsselwerk in Johann Sebastian Bachs Schaffen und einem Höhepunkt der Solo-Violinliteratur.

Bearbeitungen und Transkriptionen der Chaconne von Johann Sebastian Bach

Bearbeitungen von Johann Sebastian Bach's Chaconne im 19. Jahrhundert

Johann Sebastian Bachs Chaconne hat im Laufe der Zeit zahlreiche Bearbeitungen und Transkriptionen erfahren. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts begannen Musiker damit, das Werk für andere Besetzungen zu adaptieren. Exponenten wie Felix Mendelssohn Bartholdy und Robert Schumann hielten es für unverständlich, dass Bach diese Partita ohne jegliche Begleitung geschrieben hatte. Mendelssohn veröffentlichte 1847 eine Klavierbegleitung, Schumann folgte 1853. Besonders prägnant ist die Bearbeitung des Geigers August Wilhelmj aus dem Jahr 1885, der sogar eine Orchesterfassung hinzufügte.

Die Klaviertranskriptionen, beginnend in den 1850er Jahren, erreichten 1893 ihren Höhepunkt mit der Bearbeitung von Ferruccio Busoni. Diese ist so eigenständig, dass sie oft als eigenes Werk betrachtet wird. Auch Johannes Brahms trug zur Vielfalt der Transkriptionen bei – mit einer Fassung für die linke Hand allein. Darüber hinaus entstanden Versionen für Orgel, Streichorchester, Streichquartett, Flöte, Gitarre, Harfe und viele andere Instrumente.

Religiöse Tiefe: Helga Thoenes Fassung von Johann Sebastian Bach's Chaconne

Auch zu der in Kap. 1 besprochenen Analyse von Helga Thoene gibt es eine musikalische Interpretation: Thoene versah das Werk mit den von ihr identifizierten Choralzitaten, die ihrer Ansicht nach als musikalischer cantus firmus mitlaufen. Gemeinsam mit dem Geiger Christoph Poppen und dem Hillard-Ensemble nahm sie eine CD auf, bei der Choräle und die Sätze der Partita miteinander verwoben sind. Diese Aufnahme stellt eine besondere Form der Rezeption dar, die die religiöse und emotionale Tiefe des Werkes betont.

Bedeutende Bach Chaconne - Interpreten

Bach's Chaconne wurde und wird von den bedeutendsten Geigern der Musikgeschichte interpretiert. In ihrer ursprünglichen Form für Violine solo liegt sie in Aufnahmen von Jascha HeifetzYehudi Menuhin und Gidon Kremer vor. Heifetz’ Interpretation von 1952 basiert dabei auf der Notenausgabe seines Lehrers Leopold Auer, dessen romantische Spielweise – inklusive portamento und spiccato – nicht unumstritten ist.

Joseph Szigeti, ein „Enkelschüler“ von Joseph Joachim, spielte 1956 eine Fassung ein, die Joachims historisch informierte Perspektive mit romantischer Interpretation verband. Arthur Grumiaux brachte 1961 eine polyphone Klarheit in seine Aufnahme, während Christian Tetzlaff 1995 eine barockinspirierte Spielweise mit moderner Technik kombinierte – mit schnellem Tempo, sparsamen Vibrato und Verzierungen.

Die Chaconne von J. S. Bach in der historischen Aufführungspraxis

Historisch informierte Interpretationen auf Barockgeigen, etwa von Sigiswald Kuijken (1981) oder Rachel Podger (1997/1999), lassen das Werk in neuem Licht erscheinen. Mit einer besonders ungewöhnlichen Aufführung hat sich Joshua Bell einen Platz in der Interpretationsgeschichte der Chaconne gesichert, der sie 2008 als Straßenmusiker in einer Washingtoner Metrostation spielte.

Yehudi Menuhin sah in der Chaconne das bedeutendste Werk für Solovioline. Die Pianistin Hélène Grimaud beschreibt sie als „Tanz von Leben und Tod“ – ein Werk von kathedralenhafter Architektur, das durch seine Variationen wie farbiges Licht durch Glasfenster wirkt.

Noten: Wichtige Ausgaben von Johann Sebastian Bach's Chaconne

Die Chaconne wurde in zahlreichen Notenausgaben veröffentlicht, die sich in ihrer editorischen Herangehensweise und interpretatorischen Ausrichtung stark unterscheiden. Frühromantische Ausgaben von Auer oder Joachim prägten das 19. Jahrhundert. Spätere, historisch informierte Editionen legten Wert auf eine möglichst originale Wiedergabe der Quellenlage. Einige Ausgaben integrieren Fingersätze, Strichbezeichnungen und dynamische Hinweise, andere bieten lediglich den reinen Notentext. Für heutige Ausgaben bilden die anerkannten Urtext-Ausgaben eine unverzichtbare Grundlage; ungeachtet dessen stellt die Bearbeitungs- und Interpretationsgeschichte mit den historischen Leistungen bedeutender Musiker Quellen eigenen Rechts, die jede neue Auseinandersetzung mit Bachs Chaconne zwangsläufig beeinflussen und für künstlerische Ansätze fruchtbar gemacht werden können.

Die richtige Geige für Bach's Chaconne – Instrumentenwahl im historischen und modernen Kontext

Welche Geige eignet sich am besten für die Interpretation von Bachs Chaconne? 

Diese Frage beschäftigt sowohl Interpreten historisch informierter Aufführungspraxis als auch moderne Geigerinnen und Geiger. Zur Zeit Bachs waren Instrumente in der Tradition der Amati-Familie, von Jakob Stainer und dem frühen Antonio Stradivari verbreitet. Gerade Stainers Geigen genossen im deutschsprachigen Raum einen hervorragenden, mustergültigen Ruf – dank ihrer im historischen Vergleich außergewöhnlich hohen Resonanz und ihres warmen, dunklen Klanges.

Ein wichtiger, grundlegender Aspekt bei der Frage nach der richtigen Geige für Bachs Chaconne ist der Unterschied zwischen modernen Geigen und Barockgeigen, wie sie zu Bachs Zeit maßgeblich waren: Mit ihrem kürzeren Hals, einem leichteren Bassbalken, Darmsaiten und weiteren baulichen Unterschieden bieten sie ein signifikant anderes Klangbild als die modernen Konzertgeigen, wie sie sich in der Nachfolge Stradivaris entwickelt haben. Der weichere, intimere Ton barocker Instrumente hat sich für viele heutige Interpretationen durchgesetzt und erscheint nicht nur aus historischen Gründen für die filigrane Struktur der Chaconne als besonders geeignet. Insgesamt ist dabei festzuhalten, dass Geigen mit einer zu weichen oder süßen Klangcharakteristik weniger für Bachs Chaconne geeignet sind, da sie das in der Komposition angelegte tonale Spektrum meist nur unzureichend abbilden.

Bach's Chaconne auf modernen Geigen interpretieren

Doch so wichtig barocke Geigen für Werke wie die Bach Chaconne sind, zeigen Aufnahmen mit modernen Geigen, dass auch auf ihnen hervorragende Interpretationen möglich sind – nicht nur, wenn sich die Spielweise an barocke Techniken anlehnt. Im Umgang mit Vibrato, Bogentechnik und Artikulation entsteht ein Spannungsfeld zwischen historischer Authentizität und klanglicher Durchsetzungskraft. Wer heute Bach spielt, steht vor einer Wahl: dem Versuch, der ursprünglichen Klangwelt nachzuspüren, oder dem Ziel, Bachs Musik mit den Mitteln der Gegenwart lebendig zu machen. Beide Wege haben ihre Berechtigung – und beide führen zum Herz der Chaconne.