Geigenbau in Turin: Guadagnini, Pressenda, Fagnola

Der Geigenbau in Turin wird um die Mitte des 17. Jahrhunderts für die Musikinstrumentengeschichte greifbar und zeichnet sich von Anfang an durch Handwerkskunst auf ausnehmend hohem Niveau aus, die von wenigen und meist zugewanderten Geigenbaumeistern ausgeübt wurde. Durch ihre persönlichen Leistungen avancierte Turin zum führenden Zentrum des Geigenbaus südlich der Alpen, während der italienische Geigenbau insgesamt nach der Ära der klassischen Cremoneser Meister in eine Krise geriet.

Übersicht Geigenbau Turin:

Die Anfänge des Geigenbaus in Turin

Mit Henricus Cattenar (ca. 1620–1701) – auch bekannt unter dem italianisierten Namen Enrico Catenari – tritt der Turiner Geigenbau in das Licht der Forschung, und wie die Arbeiten seiner kaum weniger versierten Zeitgenossen Andrea Gatto (um 1660) und Fabrizio Senta (1629–1681) zeigt sich das Werk Cattenars stark durch flämische und andere nordeuropäische Stilrichtungen beeinflusst.Gewiss lassen die Turiner Geigen ab den 1670er Jahren eine wachsende Orientierung an Cremoneser Vorbildern erkennen, insbesondere an Modellen der Familie Amati, doch verbinden sich ihre Spezifika gerade bei Cattenar zu einer ganz eigenen handwerklichen und ästhetischen Formensprache. Dass dieser Stil über das 18. Jahrhundert nicht sukzessive in den italienischen Mainstream integriert wurde, ist vermutlich dem beständigen Einfluss Frankreichs im Piemont und den wechselhaften politischen Verhältnissen geschuldet, und so wenig man über die handwerklichen Beziehungen zwischen Zeitgenossen wie Gioffredo Cappa (1653 – 1717), Giovanni Francesco Celoniato (1676–1751) und Cattenar im Detail weiß, so gewiss ist doch ihre gemeinsame Grundlage in der flämischer Tradition, verbunden mit einer individuell austarierten Nähe zur Amati-Tradition.

Wie die anderen italienischen Geigenbauregionen erlebte auch Turin im 18. Jahrhundert eine Krise, die in der Forschung mit politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen, aber auch mit einer gewissen Sättigung des Marktes für erstklassige Violinen in Verbindung gebracht wird, als eine Konsequenz der langen Blüte des Cremoneser Geigenbaus. Dass das Handwerk in Turin aber im Jahr 1770 für kurze Zeit ganz erlosch, erscheint im Rückblick wie eine notwendige Zäsur, die einer neuen und noch größeren Ära das Feld bereitete.

Die Turiner Geigenbauer-Familie Guadagnini

Nur wenige Monate nachdem die alte Turiner Geigenbautradition im Jahr 1770 untergegangen war, kamen zwei Persönlichkeiten in die Stadt, die nicht nur zur Wiederbelebung dieser Kunst beitragen sondern eines der bedeutendsten Kapitel ihrer Geschichte schreiben sollten. Giovanni Battista Guadagnini (1711–1786), der an der Schwelle zu seinem siebten Lebensjahrzehnt gerade aus wirtschaftlichen Gründen Parma verlassen hatte und mit seiner Familie nach Turin gezogen war – und der junge, gerade 16 Jahre alte Graf Alessandro Ignazio Alessandro Cozio di Salabue (1755–1840), der sich auf dem Weg zur Militärakademie befand – wobei ihn die soldatische Ausbdilung deutlich weniger interessierte als Schach, das Geigenspiel – und exzellente Violinen.

1773 kreuzten sich ihre Wege, und sie vollzogen gemeinsam eine der berühmtesten geschäftlichen Transaktionen der Musikgeschichte: Den Ankauf von 10 ungespielten Original-Instrumenten Antonio Stradivaris und seines Werkstatt-Inventars von seinen Erben – ein Schatz, den der passionierte Sammler Cozio mit Guadagninis Hilfe zur Wiederbelebung des in die Krise geratenen italienischen Geigenbaus einsetzen wollte. In den folgenden Jahren studierten beide die Bauprinzipien Stradivaris, nach denen Guadagnini dank einer Abnahmegarantie Cozios bis zu seinem Tod im Jahr 1786 noch mehr als 50 Instrumente fertigte.

Mit einem Schlag war das Stradivari-Modell zur Norm im Turiner Geigenbau geworden, und Guadagnini hatte trotz seines fortgeschrittenen Alters ein solides Auskommen für sich und seine Familie gefunden. Und obwohl sich seine Söhne in den folgenden schweren Jahren, in denen das Piemont unter den Erschütterungen der französischen Geschichte zwischen der Revolution und Waterloo zu leiden hatte, aus reiner Not ganz auf den ertragreicheren Gitarrenbau konzentrieren mussten, blieb das geigenbauerische Erbe des Vaters lebendig, um sich ab den 1820er Jahren wieder in neuer Kraft zu entfalten. Nach dem frühen Tod von Giovanni Battistas jüngerem Sohn Carlo übernahm dessen ältester Sohn Gaetano Guadagnini (1796–1852) die Werkstatt, angeleitet von seinem gleichnamigen Onkel Gaetano I (1750–1817). Unter seiner Führung entwickelten sich sowohl der familiäre Gitarren- als auch Geigenbau hervorragend, nicht zuletzt, da er es verstand, sowohl auf der italienischen als auch auf der französischen Seite der Musikwelt gute Geschäfte zu machen und unter anderem eine umfangreiche Kooperation mit der Familie Vuillaume pflegte.

Nach Gaetano II baute sein Sohn Antonio (1831–1881) die väterlichen Erfolge aus. Erstmals avancierte die Guadagnini-Werkstatt zu einem Inkubator künstlerischer Exzellenz und Innovation, in dem erstklassige Meister wie Enrico Marchetti (1855–1930) und die Brüder Enrico Clodoveo Melegari und Pietro Melegari ihre Kunst vervollkommneten – und von denen sich nicht wenige um die Jahrhundertwende zu ernsthaften Konkurrenten von Antonios Sohn und Nachfolger Francesco Guadagnini (1863–1948) entwickelten. In diesem neuen Aufschwung des Turiner Geigenbaus konnte sich Francesco durchaus behaupten und integrierte in die familiäre Tradition neuere, insbesondere auf Annibale Fagnola zurückgehende Ansätze, die alsbald zu charakteristischen Merkmalen des neuen Turiner Stils werden sollten.

1943 endete die Geschichte der großen italienischen Geigenbauerdynastie Guadagnini schließlich abrupt, als Francescos Sohn Paolo Guadagnini ein Opfer des zweiten Weltkriegs und die Turiner Werkstatt bei einem Bombenangriff zerstört wurde.

Giovanni Francesco Pressenda und der Turiner Geigenbau des 19. Jahrhunderts

Unter den vielen großen Namen des Turiner Geigenbaus nimmt Giovanni Francesco Pressenda (1777–1854) einen gleichrangigen Platz neben der Familie Guadagnini ein, und seine Arbeiten sind heute um ein Mehrfaches gefragter als die – keineswegs gering zu schätzenden und alles andere als günstig gehandelten – Instrumente der anderen historischen Turiner Meister.

Dennoch bildet das Werk Pressendas einen weiteren Sonderfall in der Turiner Geigenbautradition, orientierte er sich doch zunächst relativ streng am Vorbild Stradivaris, um es in den 1820er und 1830er Jahren zu seinem persönlichen Modell weiterzuentwickeln. Obwohl gelegentlich der Einfluss von Mitarbeitern in seinem Werk aufscheint – vor allem Giuseppe Rocca, aber auch unbekannte Geigenbauer der Mirecourter Tradition – bleiben seine Arbeiten über seine gesamte Werkbiographie von einem unverkennbaren Stil geprägt und zeichnen sich durch ihren außerordentlich guten, auch unter Solisten unserer Zeit sehr gefragten Klang aus. Indem sich Giovanni Francesco Pressenda mit größter, fast ausschließlicher Konsequenz auf den Bau von Geigen konzentrierte, reifte er zu einem der bedeutendsten Meister dieses Fachs, dessen Einfluss auf den italienischen Geigenbau des 19. Jahrhunderts kaum überschätzt werden kann.

Zu seinen unmittelbaren künstlerischen Erben gehört an vorderer Stelle der bereits erwähnte Giuseppe Rocca (1807–1865), der sich 1837 und 1842 in Turin selbständig zu machen versuchte, um 1851 nach dem Tod seiner Frau nach Genua zu ziehen. Auch dort blieb er jedoch ohne den seiner Arbeit fraglos zustehenden Erfolg, und so kehrte er nach dem Tod Gaetano Guadagninis nach Turin zurück, in der Hoffnung auf eine neue Chance. Doch neben Antonio Guadagnini blieb ihm wieder kein Raum für eine Existenz als selbständiger Geigenbauer, und so zog er für die letzten Jahre seines Lebens zurück nach Genua.

Mit dem Wegzug Giuseppe Roccas und nachdem Pressenda und Gaetano Guadagnini kurz nacheinander gestorben waren, etablierte sich im Jahr 1855 Teobaldo Rinaldi (1822–1888) als Geigenhändler in Turin und versuchte, die entstandene Lücke zu füllen. Unterstützung fand er in seinem Schwiegersohn Benedetto Gioffredo (1821–1886), der den Namen Rinaldi annahm und das Unternehmen bald als Gioffredo Rinaldi führte. Obwohl Rinaldi als Geigenbauer nicht entfernt an den Rang des unglücklichen Rocca und ebenso wenig an den Antonio Guadagninis heranreichte, baute er eine überaus erfolgreiche Werkstatt auf, in der sowohl Enrico Marchetti arbeitete, bevor er zu Guadagnini wechselte, als auch Carlo Giuseppe Oddone, der zu einem führenden Protagonisten des Turiner Geigenbaus im frühen 20. Jahrhundert werden sollte. Rinaldis Nachfolger wurde ein weiterer Mitarbeiter seiner Werkstatt, Romano Marengo (1866–1926), der fortan als Marengo Rinaldi bekannt war. Beide, Gioffredo und Marengo Rinaldi, gingen zudem als Chronisten ihrer Epoche in die Geigenbaugeschichte ein und verfassten die ersten biographischen Werke über Pressenda.

Turiner Geigenbauer des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart

Dass Turin seinen Status als Zentrum geigenbauerischer Exzellenz auch im frühen 20. Jahrhundert behaupten konnte, ist nicht zuletzt den beiden großen Werkstätten zu verdanken, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die lokale Szene dominierten: das Haus Guadagnini mit seiner ins 18. Jahrhundert zurückreichenden Tradition und sein bedeutender Konkurrent Rinaldi. In letztgenanntem begann Carlo Giuseppe Oddone (1866–1935) seinen Weg als Lehrling, um nach Gioffredo Rinaldis Tod zwei Jahre lang für Frederick William Chanot in London zu arbeiten, wo er die Geheimnisse der französischen Geigenbaukunst in ihrer höchsten Vollendung studieren konnte. Zurück in Turin machte er sich 1892 selbständig und arbeitete wahrscheinlich zunächst für Marengo Rinaldi und Enrico Marchetti, erwarb sich aber bald einen ausgezeichneten Ruf und galt in den 1920er Jahren als einer der besten Geigenbauer Italiens.

Einer ganz anderen Linie folgt die Laufbahn des im selben Jahr wie Oddone geborenen Annibale Fagnola (1866–1939), der zunächst als Bäcker arbeitete und den Geigenbau im Wirkungsbereich Guadagninis und Rinaldis autodidaktisch erlernte. Offenbar nutzte er jede Gelegenheit, die Meisterwerke Pressendas und Roccas vor Ort zu studieren, und etablierte sich innerhalb weniger Jahre international als einer der gefragtesten Turiner Meister – dem mit einer Goldmedaille für ein Streichquartett auf der Turiner Ausstellung von 1911 auch die verdiente Ehre seiner Heimatstadt zuteil wurde.

Zu den zahlreichen Schülern, die von Fagnola ausgebildet und inspiriert wurden, gehört Plinio Michetti (1891–1991), wie Fagnola ein Autodidakt, der wohl nicht zuletzt wegen seines außerordentlichen Talents auch von anderen großen Geigenbauern wie Carlo Giuseppe Oddone, Euro Peluzzi, Cesare Candi und Paolo de Barbieri gefördert wurde und sich rasch zu einem vielfach ausgezeichneten Meister entwickelte.

Heute wird die spezifische piemontesische Geigenbautradition in der zeitgenössischen Szene Turins durch den Gründer und Präsidenten der Accademia Liuteria Piemontese Enzo Cena (1944–) repräsentiert, der durch seine Lehrtätigkeit viele exzellente junge Meister im Sinne der großen Turiner Meister beeinflusst hat. Darüber hinaus zieht die Stadt wie in früheren Zeiten Talente aus weiter entfernten Regionen an, etwa Francesco Piloni (1979–), der in seiner Heimatstadt Cremona lernte und vor der Eröffnung seiner Turiner Werkstatt für Carlson & Neumann arbeitete. Auch seine Werkstattpartnerin Kanna Osaki (1981–) studierte in Cremona und absolvierte eine Bogenmacherausbildung bei Giovanni Lucchi. Eine besonders interessante Entdeckung ist Yael Rosenblum, eine ehemalige Berufsviolinistin und -violistin, die in Jerusalem und Cremona Geigenbau studierte, mit einer Spezialisierung auf barocke Instrumente, und seit mehr als 20 Jahren von ihrer Turiner Werkstatt aus mit führenden Orchestern und Solisten weltweit zusammenarbeitet.

Originally published by Corilon violins.