Antonio Stradivari – eine Geschichte von Klang und Widerhall

Antonio Stradivari (Italienischer Geigenbauer, Cremona ca. 1644-1737) war einer der historisch einflussreichsten Geigenbauer und definierte mit seinem Modell der Stradivari Geige die bis heute grundlegenden Standards im Geigenbau. Antonio Stradivaris Spätwerk aus der sogenannten "Goldenen Periode" war eine künstlerische Revolution; der unvergleichlich gute Klang seiner Geigen beschäftigt Geigenbauer und Forscher seit Generationen. Heutzutage werden Antonio Stradivari Geigen zu unerschwinglichen Preisen von 10 - 15 Mio. € gehandelt.

Wie kam es zur Entwicklung seines genialen, einflussreichen Stradivari Violinmodells – und warum gehören Antonio Stradivari Geigen heute zu den am teuersten gehandelten Streichinstrumenten? 

Antonio Stradivari und die musikalische Revolution von Cremona

Die Lebensgeschichte von Antonio Stradivari (Antonius Stradivarius) berichtet aus einer Zeit tiefgreifender Umbrüche, und sie repräsentiert allein durch ihre biblische Länge von weit über 90 Jahren mehr als eine Epoche der europäischen Musikgeschichte. Wie in so vielen großen, alten Geschichten weist auch diese Erzählung einige Lücken auf, die die historische Forschung bislang nicht schließen konnte. So lässt sich zu Recht bedauern, dass wir das Geburtsjahr des wohl größten Geigenbauers der Geschichte nicht mit Sicherheit kennen; folgt man Stradivaris eigener Angabe auf einem Geigenzettel des Jahres 1727 – auf dem Stradivari vermerkte, er habe das Instrument im Alter von 83 Jahren gebaut – lässt sich das Jahr 1644 erschließen.

Es ist die Zeit der spanischen Vorherrschaft in Italien, unter der Cremona ebenso litt wie unter den sozialen und wirtschaftlichen Folgen der großen Pestepidemien der 1630er Jahre. In dieser Situation hatte die Familie von Antonio Stradivari – die zu den alteingesessenen Geschlechtern der Stadt gehörte – Cremona verlassen und sich andernorts in Sicherheit gebracht. Wohl aus diesem Grund ist die Geburt von Antonio Stradivari in keinem bekannten Kirchenbuch verzeichnet.

Stradivari und Amati – wo lernte Antonio Stradivari?

Ebenso gibt es keinen aussagekräftigen Beleg, unter welchen Umständen und bei welchem Meister Antonio Stradivari den Geigen- und Lautenmacherei erlernt hat. Hat er zu nächst eine Tischlerlehre absolviert? Und war Stradivaris Lehrer tatsächlich der große Nicolò Amati in Cremona? Stradivari selbst scheint darauf hinzuweisen, wenn er sich auf weiteren Zetteln in seinen frühen Geigen als „Alumnus Nicolai Amati“ bezeichnet. Aber ist damit wirklich eine Lehrer-Schüler-Beziehung gemeint, oder erweist der junge Geigenbauer Antonio Stradivari lediglich dem unangefochtenen Leitstern seines Handwerks eine Reverenz – die wohl auch nicht ganz frei von geschäftstüchtigem Hintersinn war?

Denn auf welche Art Antonio Stradivari Amatis Schüler auch gewesen sein mag: Die Etablierung von Antonio Stradivari als erfolgreicher Geigenbauer war die eines versierten Amati-Interpreten, und er verdankte seinen raschen Aufstieg nicht seiner revolutionären Neuformulierung des Stradivari Geigen Modells, die ihm seinen herausragenden Platz in der Musikinstrumentengeschichte eingebracht hat – sondern der treuen Umsetzung der auf Amati basierenden Prinzipien, und, nicht zuletzt, der ästhetischen Attraktivität Stradivaris Arbeiten. Dass Antonio Stradivari bis zu seinem Tod Schablonen von Amati in seiner Werkstatt hatte, ist ein Indiz für die Bedeutung, die dem Verhältnis zu seinem „Meister“ zukam – ganz gleich, ob dieses Wort in seinem eigentlichen oder einem übertragenen Sinn zutrifft.

Das Violinmodell von Antonio Stradivari

Erst im Alter von ca. 40 Jahren unternahm Antonio Stradivari einen in seiner Radikalität erstaunlichen Aufbruch, als er um 1684 zu experimentieren begann:

  • In den kommenden ca. 10 Jahren variiert der Korpus seiner Instrumente in Länge und Breite, vor allem aber nimmt Antonio Stradivari sukzessive die Höhe der Wölbung zurück; ein entscheidender Schritt hin zu einer signifikanten Verbesserung des Tons, da ein flacherer Boden leichter in Schwingung zu versetzen ist als ein höher gewölbter.
  • Die F-Löcher weiten sich im Laufe dieser Jahre
  • Stradivari unterzieht auch die Rezeptur des von ihm verwendeten Lackes einer gründlichen Revision.

Mit diesen und vielen weiteren, kleineren Veränderungen scheint Antonio Stradivari zielstrebig darauf hingearbeitet zu haben, einen stärkeren, trag- und durchsetzungsfähigeren Klang seiner Violinen zu erreichen, und ihn mit den tonlichen Vorzügen seiner bisherigen Stradivari Geigen zu verbinden. Über die Gründe für diese plötzlich anmutende Veränderung der Stradivari Geige ist viel spekuliert worden, und wahrscheinlich enthält jede Hypothese über die Motive von Antonio Stradivari ein Körnchen Wahrheit: Wie sollte man leugnen, dass die geniale Idee und die handwerkliche Neugier ihre Rolle gespielt haben – während die gute Annahme seiner neuen Violinen bei herausragenden Solisten und Komponisten dafür spricht, dass es Antonio Stradivari vor allem darum ging, einem neuen klanglichen Anforderungsprofil in der Musik seiner Zeit zu entsprechen. Die Vergrößerung der Orchester und die Entwicklung des Solokonzerts bzw. des Concerto Grosso sind ein plausibler Hintergrund für jene Revision seines bisherigen Schaffens, ja des gesamten Mainstreams im italienischen Geigenbau des Barock, mit der es Antonio Stradivari verstand, einen hochinteressanten Kundenkreis an sich zu binden. Nicht zuletzt wird oft übersehen, dass neben ihm auch viele andere zu experimentieren begannen; die Zeit um 1690 kann im italienischen Geigenbau durchaus als eine Phase des zuweilen kühnen Experiments bezeichnet werden, in der die – noch vergleichsweise jungen – Standards der Violinfamilie in Fluss gerieten.

Das Geheimnis Antonio Stradivari

Welche Eigenschaft ist aber ausschlaggebend für die besondere Qualität und den exzeptionell guten Klang der neuen Stradivari Geige, dessen Modell um das Jahr 1695 zur Reife gelangt war? Neue Hypothesen zu dieser Frage beschäftigen in regelmäßigen Abständen die Öffentlichkeit – ist es der Lack, und gibt es das geheime Rezept für seine Herstellung, das Stradivaris Nachkommen einer spannenden Legende zufolge bis heute unter Verschluss halten sollen? So unterhaltsam derartige Spekulationen – und ihre seriöseren Pendants – auch sind, haben sie mit einer fachlichen Bewertung dieses epochemachenden Werkes doch nichts zu tun.

Ein Streichinstrument ist ein komplexes System, dessen Qualität nie von einem einzigen Merkmal abhängen kann, sondern im gleichbleibend hohen Niveau aller seiner Bestandteile begründet ist. Auch der Lack von Stradivari Geigen, der, wenn auch wohl mehr für seine ästhetische Qualität, schon von Stradivaris Kunden geschätzt wurde, trägt seinen Teil dazu bei, kann aber nicht als „das“ Geheimnis „der“ Stradivari Geige gelten. Die Instrumente des großen Cremonesers sind historische Leistungen des Geigenbaus, die ihren musikalischen Rang vielen einzelnen Faktoren verdanken, und nicht zuletzt ihrer vollendet harmonischen Abstimmung aufeinander. Sie im Detail zu studieren ist bis heute eine der besten Schulen für Geigenbauer, die ihr Wissen und ihre handwerklichen Fähigkeiten perfektionieren wollen.

Überblick: Phasen im Werk Antonio Stradivari

„Amatisé“:
Das Frühwerk Stradivaris, orientiert am Vorbild seines vermutlichen Lehrers Nicolò Amati
1667 – ca. 1684/85
Übergangszeit:
Auseinandersetzung mit Maggini-Modell, Verringerung der Wölbungshöhe und Überarbeitung der Stärkenverteilung der Decke zur Vergrößerung des Tones, größeres „Longuet“-Modell
1684/85 – ca. 1695
Reifung des Stradivari-Modells 1695 – 98
Die „goldenen Jahre“ ca. 1700 – 1720
Spätwerk ca. 1725 – 37

Omobono Stradivari und Francesco Stradivari: Die ewigen Kronprinzen

Von den insgesamt 11 Kindern Antonio Stradivaris ergriffen nur der 1671 geborene Francesco Stradivari und sein acht Jahre jüngerer Bruder Omobono Stradivari den Beruf ihres Vaters – und standen Zeit ihres Lebens in seinem Schatten. Dass die auch wirtschaftlich äußerst erfolgreiche familiäre Stradivari Werkstatt keinen guten Übergang auf die nächste Generation fand, mag erstaunen – lag aber gerade an Stradivari selbst: Seine überragende Meisterschaft und Produktivität bis ins hohe Alter, ja bis zu seinem Tod mit weit über 90 Jahren ließ insbesondere Francesco Stradivari keinen Raum für seine eigene Entwicklung. Selbst wenn Antonio Stradivaris späteste Instrumente hier und da gewisse Nachlässigkeiten erkennen lassen, erfüllen sie klanglich doch alle Erwartungen der besten Musiker, damals wie heute – und so blieb er auch in der ihm folgenden Generation persönlich das Maß aller Dinge.


Nur Omobono Stradivari wagte mit 18 Jahren einen Ausbruch und ging nach Neapel, kehrte wahrscheinlich sogar dem Geigenbau den Rücken – um aber schließlich doch zurückzukehren und Bruder und Vater in der Werkstatt zu unterstützen. Der Einfluss des Vaters war offenkundig so dominant, dass das Werk der Söhne nur in groben Umrissen bekannt ist; wahrscheinlich konnten sie sich nie aus dem Status hochqualifizierter Zuarbeiter emanzipieren und überlebten Antonio nur um wenige Jahre. So bleibt die persönliche handwerkliche Leistung Omobonos praktisch ungreifbar, während Francesco Stradivari immerhin einiger Einfluss auf das um 1730 entstandene Cello-Modell „forma B“ und auf die Mandolinen aus der Werkstatt Stradvari zugeschrieben wird – der restliche Ertrag seiner über 50 Jahre umfassenden Werkbiographie ist unsichtbar.

Die letzten echten Stradivari

Was blieb, nachdem der Meister und die Söhne gestorben waren und auch kein anderer talentierter Schüler nachfolgte, sodass die Werkstatt Antonio Stradivaris keine direkte Traditionslinie begründete? Zunächst waren da noch etliche Instrumente, die der Vater verschiedenen Mitgliedern seiner Familie vererbte. Sie sind freilich nur ein kleiner Teil der wahrscheinlich rund 1.000 Instrumente, die im Laufe dieses beeindruckend langen Arbeitslebens von Stradivari und seinen Söhnen geschaffen wurden. Rund 650 Stradivari Geigen existieren bis heute, wobei eine gewisse Dunkelziffer wegen unbekannter Provenienzen anzunehmen ist. Die meisten von ihnen liegen als Wertanlage in gut gesicherten Safes oder sind in Museen zu bewundern – im weltbekannten Museo del Violino in Stradivaris Heimatstadt Cremona, aber auch in vielen anderen Ländern der Welt. Nur wenige befinden sich, zumeist als Leihgabe, in den Händen von Musikern; ein beklagenswerter Umstand, der nicht zuletzt dem globalen Erfolg der „Marke Stradivari“ seit dem 19. Jahrhundert und der in seiner Folge einsetzenden Spekulation auf die historischen Meisterwerke des Geigenbaus zu verdanken ist. 

Der Geigenbauer Antonio Stradivari betrachtet eine Geige

 

Stradivari am Fließband: Die Inflation einer Marke

So ist das Interesse an den alten italienischen Meistern und insbesondere an Stradivari, das sich Ende des 18. Jahrhunderts explosionsartig zu entfalten begann, auch dafür verantwortlich, dass in praktisch allen wichtigen Zentren des industriellen Geigenbaus „Stradivaris am Fließband“ gebaut wurden. Dass nachempfundene Geigenzettel, Brandstempel und Kataloge den ungeschützten Namen für die Werbung in Anspruch nahmen, ist eine weitere aussagekräftige Wendung in der Wirkungsgeschichte Stradivaris – der in seinem singulären, streng an seine Person gebundenen Wirken doch das Gegenteil jeder Massenproduktion verkörperte. Und dennoch haben die Manufakturen aus Sachsen, Frankreich und anderen Ländern insofern ein gewisses Recht, als selbst ihre Millionen Produkte letztendlich von der innovativen Kraft zehren, mit der der Mythos Stradivari Jahrhunderte zuvor den Geigenbau auf eine neue Stufe gehoben hatte. So weit entfernt eine chinesische Fabrikgeige von der berühmten „Messiah“ oder „Hellier“ auch sein mag, um nur die Namen von zwei weltberühmten Instrumentenpersönlichkeiten zu zitieren, gäbe es sie nicht ohne das historische Geigen Modell von Antonio Stradivari.

Wie teuer ist eine echte Stradivari?

Der märchenhafte Wert echter Stradivari Geigen beschäftigt immer wieder die Öffentlichkeit, etwa im Jahr 2016, als eine Violinistin ihre 2,4 Millionen Euro teure Stradivari im Regionalexpress vergaß. Auch die immer neuen Versteigerungs-Rekorde finden zuverlässig den Weg in die Publikumspresse, wie die berühmte „Lady Blunt“, die aktuell als die Stradivari Geige mit der spektakulärsten Wertsteigerung gilt: Wurde die Geige 1871 bei Sotheby‘s für umgerechnet ca. 200.000 USD versteigert, erzielte die Lady Blunt Geige 2011 bei Tarisio die sagenhafte Summe von 15,9 Millionen USD. Dass die jüngste Versteigerung zugunsten der Opfer des Tōhoku-Erdbebens und -Tsunamis stattfand, mag das Ergebnis zusätzlich beeinflusst haben – dennoch entspricht diese enorme Preissteigerung dem Trend im Handel mit historischen Spitzeninstrumenten, insbesondere solchen von der Hand Stradivaris. Und ein Ende der Entwicklung ist bislang nicht in Sicht.

Stradivari Erben: Große Nachfolger des Meisters

Der unmittelbare Einfluss Stradivaris auf die nachfolgenden Geigenbauer-Generationen war zunächst nicht so groß, wie man angesichts seines heutigen Ruhmes annehmen mag. So erfreuten sich Violinen nach Amati gerade in Italien weiterhin großer Beliebtheit; ihre Klangeigenschaften entsprachen dem verbreiteten Musikgeschmack, insbesondere im Bereich der Kammermusik. Auch das Vorbild Jakob Stainers behauptete seinen Einfluss, zum Teil bis ins 19. Jahrhundert hinein, und verschiedene autochthone Schulen prägten die Vielfalt des europäischen Geigenbaus im frühen 18. Jahrhundert; zu nennen sind etwa die unverwechselbaren Modelle Caspar Hopfs im böhmisch-sächsischen Musikwinkel oder Jacob Krauchdalers, das den alemannischen Raum beeinflusste.

Dennoch lässt sich ohne Frage eine Linie von Antonio Stradivari zu den besten Geigenbauern unserer Tage ziehen, selbst wenn diese weniger in einer geschlossenen Reihe von Lehrer-Schüler-Beziehungen sichtbar wird als in der wiederholten Inanspruchnahme und Auseinandersetzung mit den historischen Vorbildern von Stradivaris Hand. Ihre Eigenschaften gehören nicht nur zur Grundausbildung junger Geigenbauer, sondern bilden den roten Faden in der künstlerischen Entwicklung vieler exzellenter Meister. So konnte etwa Christoph Götting während seiner langjährigen Mitarbeit bei J. & A. Beare in London an zahlreichen Stradivari Geigen arbeiten und erlangte in der Auseinandersetzung mit ihnen wichtige Erkenntnisse für sein eigenes Werk, nicht zuletzt für sein großes Lebensthema, die Lackarbeit. In ähnlicher Weise sind die Instrumente Stradivaris eine beständige Inspirationsquelle für den Pariser Meister Stephan von Baehr, der sich als Mitarbeiter Andreas Kaegis früh mit dem Cremoneser auseinandersetzen konnte – und nicht zuletzt durch die Impulse aus einer vergangenen, aber immer noch lebendigen Epoche zu einem der interessantesten Geigenbauer der Gegenwart reifte.

 

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Weiterführende Links:

Bibliothek - Textsammlung zur Geschichte des Geigenbaus

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